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Hessen braucht mehr natürliche Fließgewässer

Bilanz der hessischen Biodiversitätsstrategie: Gewässer

Laut der hessischen Biodiversitätsstrategie sollten bis 2020 enorme Verbesserungen im Zustand unserer natürlichen Gewässer erreicht werden. Trotz guter Ansätze sieht der NABU jedoch noch große Defizite.


Forbachsee an der Fulda - Foto: H. Zucchi

Forbachsee an der Fulda - Foto: H. Zucchi

Der NABU für lebendige Gewässer

Der NABU begleitet die Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) seit rund 20 Jahren intensiv mit. In Stellungsnahmen, umfangreichen Renaturierungskonzepten für die Fulda und die Lahn und zahlreichen konkreten Renaturierungsprojekten zeigen wir, wie Flüssen und Bächen mehr Dynamik gegeben werden kann. Und nicht zuletzt fördern wir seit Jahrzehnten die Ausbreitung des Bibers – dem kostenlosen Landschaftsgestalter in der Aue schlechthin.

Vieles hat sich in den letzten Jahren im Gewässerschutz getan. So wurde zum Beispiel das Programm 100 wilde Bäche gestartet, bei dem Kommunen sehr viel Unterstützung durch das Land erhalten. 2018 wurde den Kommunen im Hessischen Wassergesetz ein Vorkaufsrecht für Uferflächen eingeräumt. Ein Förderprogramm finanziert Flächenkäufe und Renaturierungen zu bis zu 95%. Das Land hat in der Zeit von 2010-2019 Gewässerrenaturierungen in Höhe von 330 Mio. Euro gefördert. Auch die Phosphat-Einträge aus Kläranlagen wurden deutlich vermindert. Ein Vergleich der renaturierten Flussabschnitte mit den nicht umgestalteten zeigte, dass sich in den naturnahen Abschnitten die Individuenzahl der stark gefährdeten Arten verdoppelte.



Dennoch zeigt unsere Bilanz, dass die Ziele der Nationalen Biodiversitätsstrategie bisher bei weitem nicht erreicht wurden:


Nationale Biodiversitätsstrategie nicht erfüllt

Ziel war die Verbesserung des Zustandes der Fließgewässer, der grundwasserabhängigen Landökosysteme und der wasserabhängigen Schutzgebiete bis 2015. Tatsächlich aber wurde in Hessen bisher nur für 11% der Fließgewässer ein „guter ökologischer Zustand“ erreicht. Und 65% aller Fließgewässer sind in ihrer Strukturgüte stark bis vollständig verändert.


Die chemische Belastung der Gewässer hat eher zu- als abgenommen

Die Gesamtphosphor-Belastung ist noch immer in 65% der Gewässer über dem Zielwert.

Ziel war auch ein guter Zustand des Grundwassers bis 2015. Die Nitratbelastung hat aber nicht ab-, sondern zugenommen: Befanden sich 2007 noch 17 Grundwasserkörper (von 127) im schlechten Zustand, so sind es heute 19 Grundwasserkörper. Auch die Belastung mit Ammonium und Sulfat hat inzwischen zugenommen. Ursache der steigenden Ammonium- und Sulfatkonzentrationen ist die intensive Landbewirtschaftung vor allem im Hessischen Ried.

Viele Flüsse sollten bis 2020 wieder gute Badewasserqualität besitzen. Aber noch immer sind Fließgewässer in Hessen keine Badegewässer. Aufgrund der aus Kläranlagen- und von Mischwassereinleitungen sowie diffusen Einträgen aus der Landwirtschaft stammenden Keime, ist ein Baden nicht möglich. Nur 27 % der hessischen Seen haben ein „gutes ökologisches Potential“ erreicht.

Ziel war auch, bis 2020 flächendeckend anthropogene diffuse Einträge von Stickstoff und Pflanzenschutzmitteln (PSM) in das Grundwasser entsprechend den Zielen der WRRL und der Grundwasserrichtlinie deutlich zu reduzieren. Tatsächlich sind bisher nur 86% der Grundwasservorkommen in einem guten chemischen Zustand (und das auch nur, wenn man zwei flächendeckend verbreitete Schadstoffe ausklammert).

Unser Grundwasser wird immer stärker belastet

Beim Grundwasser sind hohe Nitrat-Konzentrationen als das größte Problem zu benennen. Der überwiegende Anteil des Nitrats stammt dabei von der flächenhaften Landbewirtschaftung. Das Land setzt hier bisher fast nur auf Beratungsangebote für Landwirte. Weitergehende Maßnahmen würden an mangelnder Akzeptanz der Landnutzer scheitern. Bezüglich von Pflanzenschutzmitteln befürchtet das Land sogar eine Verschlechterung aktuell noch guter Grundwasserkörper. Daher sind konkret messbare Maßnahmen zur Verminderung der PSM-Einträge notwendig.

Die Hessische Biodiversitätsstrategie sieht als Aufgabe des Wirtschaftsministeriums die Berücksichtigung der Belange des Naturschutzes und der Biodiversität in Flurbereinigungsverfahren z.B. zur Anlage von Vernetzungselementen wie breiten Gewässerentwicklungsstreifen vor, die zugleich der Reduzierung diffuser Stoffeinträge in die Gewässer dienen. Tatsächlich besteht ein großes Defizit bezüglich dringend notwendiger Flurneuordnungsverfahren zur Ausweisung von Gewässerentwicklungsstreifen, welches mit einem Mangel an qualifizierten Personen auf dem Arbeitsmarkt begründet wird.

Verpflichtung statt Freiwilligkeit

Jahrelang predigte das Land bei der Renaturierung das Prinzip der „freiwilligen Umsetzung“. Die Umsetzung der WRRL-Richtlinie muss aber als das kommuniziert werden, was sie ist: Eine europarechtliche Verpflichtung. Bereits bestehende gesetzliche Regelungen z. B. zur Reduzierung von Stoffeinträgen und zur Definition der Gewässerunterhaltung müssen genutzt werden. Es bedarf einer gesetzlichen Definition eines ungenutzten Gewässerentwicklungsstreifens und eines beidseitigen Gewässerrandstreifens mit strengen Bewirtschaftungsauflagen.

Europa macht Druck

Biber warten nicht immer auf die Mühlen der Politik und übernehmen die Gewässerrenaturierung einfach selbst - übrigens zum Nulltarif - Foto: Manfred Delpho

Biber warten nicht immer auf die Mühlen der Politik und übernehmen die Gewässerrenaturierung einfach selbst - übrigens zum Nulltarif - Foto: Manfred Delpho

Schon 2015 stellte die EU-Kommission in ihrer Mitteilung an das Europäische Parlament fest „Der von vielen Mitgliedsstaaten verfolgte Ansatz…reicht eindeutig nicht aus um die Umweltziele für die meisten Wasserkörper zu erreichen“.

Auch in der Bewertung der deutschen Bewirtschaftungspläne äußerte die EU-Kommission vernichtende Kritik: „Nahezu alle Bewirtschaftungspläne … sehen ein Minimum von Maßnahmen zur Lösung dieses Problems vor, die jedoch oft zu allgemein sind, keine Schwerpunkte setzen und in keinerlei direktem Zusammenhang zu den bestehenden Belastungen oder erwarteten Auswirkungen stehen“.

Der NABU formulierte daher 2017 gemeinsam mit dem BUND eine umfangreiche EU-Beschwerde zur unzureichenden Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie. 2020 eröffnete die EU-Kommission daraufhin ein „Pilotverfahren“, das ist die Vorstufe eines Vertragsverletzungsverfahrens.


Woran liegt es, dass Hessen so langsam vorankommt?

Zwar bemüht sich die Wasserverwaltung redlich, aber die rechtlichen Regelungen außerhalb der Wasserwirtschaft (insbesondere Landwirtschaft, Industrie, Verkehr, Energie) sind mit den Zielen der Wasserrahmenrichtlinie oft nicht vereinbar. Auch bestehen noch erhebliche Unsicherheiten zu schädlicher Umweltauswirkungen des Klimawandels und stofflicher Einwirkungen (z. B. Chemikalien). Häufig ist die Flächenverfügbarkeit für die Maßnahmenumsetzung schwierig. Auch gibt es viele sogenannte „alte“ Wasserrechte, die früher einmal eingeräumt wurden und weiterhin gelten. Hinzu kommt, dass viele Kommunen die Aufgabe allein kaum stemmen können – hier ist noch stärkere Unterstützung durch das Land nötig (personell und finanziell). Da die Frist zur Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie 2027 endet, müssen alle Maßnahmen bis dahin zumindest begonnen werden.


Die 5 Forderungen des NABU Hessen für einen besseren Gewässerschutz


Kein Renaturierungs-Limit durch Trittsteinkonzept

Nach wie vor versucht Hessen, die Renaturierungsverpflichtung so gering wie möglich zu halten. So werden häufig nicht vollständige Bachläufe, sondern nur Teilabschnitte renaturiert. Zunächst einmal gelten nur 8.000 km der 24.000 km Fließgewässer in Hessen als „WRRL-relevant“ weil es hier eine Berichtspflicht gegenüber der EU-Kommission gibt. Alle Oberläufe fehlen. Aber selbst dieses Drittel der Gewässer soll nur im Umfang von insgesamt 35% renaturiert werden. Das Land hofft, dass diese Abschnitte durch die Wanderung von Tierarten eine „Strahlwirkung“ auf das gesamte Gewässer entfalten, und sich so überall der gute Zustand einstellt.

Der NABU fordert, die Renaturierung so lange fortzusetzen, bis der gute Zustand nicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich überall (außerhalb der Ortschaften) erreicht ist. Grundsätzlich müssen auch Renaturierungsmaßnahmen an Oberläufen möglich sein und gefördert werden. Es muss künftig beachtet werden, ob von den Oberläufen negative Belastungen ausgehen (z. B. Wanderungshindernisse, Stoffeinträge) oder ob bestimmte Oberläufe aufgrund eines sehr guten Zustands eine besondere Bedeutung für die Wiederbesiedlung der Mittelläufe haben können.

Nutzungsfreie Gewässerentwicklungsstreifen würden Einträge durch die Landwirtschaft senken

Damit Bäche sich wieder dynamisch durch die Landschaft schlängeln können, müssen die Uferstreifen ins Eigentum der öffentlichen Hand und aus der Bewirtschaftung genommen werden. Nur so können hier Entwicklungsräume für die Artenvielfalt entstehen und der Eintrag von Pestiziden und Düngemitteln verringert werden.

Daher bedarf es eines langjährigen systematischen Ankaufprogramms von Uferflächen und eines professionellen Flächenmanagements durch das Land: Hier muss Personal eingestellt werden, welches gezielt die Aufgabe des Landmanagements (Flurneuordnungsverfahren, Freiwilliger Landtausch) hat. Es sollten dabei alle Möglichkeiten genutzt werden, landeseigene Grundstücke im Auenbereich einzubeziehen oder als Tauschflächen zu nutzen.

Zusätzlich müssen über das Wassergesetz diese Entwicklungsstreifen und ein angrenzender Pufferstreifen mit strengen Bewirtschaftungsauflagen festgelegt werden.

Konsequenter Grundwasserschutz

Das Land muss weitere Maßnahmen zur Verringerung der Stickstoffeinträge ergreifen und ihre Wirkung dokumentieren. Der Ökologische Landbau muss in Hessen weiter gefördert werden. Für gefährdete oder bereits verunreinigte Grundwasserkörper sind Trinkwasser-Schutzgebiete ohne Trinkwassergewinnung auszuweisen und verbindliche Sanierungspläne vorzugeben, deren Maßnahmen an Fristen, einer optimierten Dokumentation und Überwachung (Hoftorbilanzen, Sickerwasseranalysen) gebunden sind. Neue Tiermast- und Biogasanlagen dürfen in diesen Gebieten weder errichtet, noch mit Landesmitteln gefördert werden.

Klimawandel erfordert Konsequenzen

Drei trockene Sommer in Folge haben gezeigt, welche Folgen der Klimawandel künftig für unsere Gewässer und deren Lebensgemeinschaften haben wird. Oberläufe trockneten aus oder erwärmten sich so stark, dass Arten wie die Bachforelle Probleme bekommt. Es sind daher in Zukunft Klimaanpassungsmaßnahmen notwendig: Starkregen werden zu mehr Hochwasser führen. Die Flüsse brauchen mehr Raum. Dafür bedarf es eines ökologischen Hochwasserschutzes und Auenrenaturierung mit Retentionsflächen, die das Wasser in der Fläche zurückhalten. Schon in den Oberläufen muss der Wasserabfluss durch Maßnahmen in Land- und Forstwirtschaft gebremst werden. Biotopverbundsysteme müssen weiterentwickelt und extensives Grünland erhalten werden, zudem muss die lineare Durchgängigkeit erreicht werden. Es bedarf einer Beschattung auf mehr als 50 % der Fließstrecken, um der Erwärmung des Wassers entgegenzuwirken. Damit Ufergehölze das leisten können, müssen es Gewässerentwicklungsstreifen ausgewiesen werden.

Wasserentnahme-Entgelt wiedereinführen

In 13 anderen Bundesländern gibt es ein Wasserentnahme-Entgelt (Gesamtaufkommen 383 Mio. €/Jahr). Hessen muss dies als zusätzliches Finanzierungsinstrument, z. B. zum Ankauf von Uferflächen, wiedereinführen. Das auch von der EU-WRRL eingeforderte Verursacherprinzip ist ein gerechtes und transparentes Vorgehen, das dafür sorgt, dass die Ressource Wasser in verantwortlicher und möglichst nachhaltiger Form genutzt wird.


Wenn Sie sich für mehr Details interessieren, dann lesen Sie die ausführliche Fassung der „Bilanz der Biodiversitätsstrategie in Hessen Teil 1: Gewässer“ in unserem

NABU Infopapier als PDF

(Dieses Dokument basiert auf Antworten aus einer Großen Landtagsanfrage der Landtagsfraktion „Die Linke“ vom 25.3.2021)


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