Einführung in die Wildnisbildung
Wildnis als Lernraum für nachhaltige Entwicklung




Parallel zur Ausweisung von Nationalparks, Wildnisgebieten und Naturwäldern in Deutschland entwickelten sich Bildungsaktivitäten, die den spezifischen Beitrag von Wildnis für eine nachhaltige Entwicklung in den Fokus nahmen. Daraus entstand das Konzept der Wildnisbildung, dass sich durch drei primäre Qualitäten auszeichnet: die originäre Naturerfahrung anhand konkreter Phänomene, das Schlüsselthema Verwilderung und die Nachhaltigkeits-Perspektive des Mensch-Natur-Verhältnisses. Somit lässt sich Wildnisbildung als pädagogisches Konzept charakterisieren, bei dem das originäre Erleben konkreter Phänomene verwildernder Natur zur Reflexion des Verhältnisses von Mensch und Natur anregen möchte. Zentrale Aufgabe der Wildnisbildung ist es, attraktive Lernräume des Wilden zur Reflexion des Verhältnisses von Mensch und Natur zu gestalten. Es gilt, die spezifischen Bildungspotenziale von Wildnis zu identifizieren, herauszuarbeiten und didaktisch aufzubereiten. Hierbei können sowohl individuelle als auch das gesellschaftliche Naturverhältnisse im Mittelpunkt stehen.
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Eine sorgsame Bewilderung - Foto: Anja Erxleben
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Die Natur hat hier Vorrang - Foto: Sebastian Lehmeier
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Braucht es viel Material? - Foto: Anja Erxleben
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Kultur trifft auf wilde Natur - Foto: Anja Erxleben
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Entdeckungen im grünen Moos - Foto: Sebastian Lehmeier
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Was ist denn hier Natur? - Foto: Sebastian Lehmeier
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Das Wilde gibt es überall - Foto: Anja Erxleben
Für die konkrete Bildungspraxis wurden sieben thematische Nachhaltigkeits-Aspekte ausdifferenziert, die verschiedene Schwerpunktsetzungen wie z.B. Lebensstilfragen, die Auseinandersetzung mit eigenen Naturbildern, Wildniserleben als Teil demokratischer Freiheit oder den Schutz der biologischen Vielfalt ermöglichen.
- Harmonisch-chaotische Natur erleben: Das intensive Erleben von verwildernder, eigensinniger Natur zwischen Harmonie und Chaos, um ein realistisches Naturverständnis sowie Naturvertrautheit entwickeln zu können.
- Sorgsame Bewilderung erspüren: Das leibliche Erspüren der eigenen empfindlichen und lebendigen Natur des Menschen durch sorgsame Bewilderung.
- Ökologische Wechselwirkungen erkunden: Das konkrete Erfahren der ökologischen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Mitwelt als Grundlage kompetenter Urteilsbildung im Alltag.
- Lebensstil und Lebenssinn reflektieren: Das eingehende Nachdenken über Sinnfragen mit dem Blick auf den eigenen Lebensstil und die Begrenzung eigener materieller Ansprüche.
- Wilde biologische Vielfalt entdecken: Das Entdecken und Erkunden der wilden biologischen Vielfalt mit ihrer Bedeutung für den Menschen.
- Mit Wildnis auseinandersetzen: Die individuelle Erfahrung und Auseinandersetzung mit dem kulturellen Konzept von „Wildnis“ als Kontrapunkt zur modernen Zivilisation.
- Freiheit der Wildnis erfahren: Das inspirierende Erleben der Wildnis als Ort der persönlichen Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft.
Zentrale Aufgabe der Wildnisbildung ist es, durch intensive Naturerfahrungen vielfältige Anlässe zum Nachdenken über das individuelle und gesellschaftliche Verhältnis von Mensch und Natur anzubieten. Das Wildnisverständnis "Natur Natur sein lassen" mit seiner Aufforderung, die wilde Natur als Gast zu erleben und nicht verändernd in sie einzugreifen, ist hierbei ein wesentlicher Lernfaktor. Dabei empfiehlt es sich, nicht nur Aspekte einer ästhetisch schönen Wildnis aufzugreifen, sondern auch die Ausdrucksformen verstörender Verwilderung – wie tote Tiere, umstürzende Bäume und reißende Bäche – mit einzubeziehen. Ein wesentlicher Lernfaktor ist die Wildnis-Philosophie, verwildernde Natur nur als Gast zu erleben und nicht verändernd in sie einzugreifen. Der Suffizienz-Gedanke, Natur nicht immer nur zu nutzen und mit weniger Materiellem auszukommen, spielt deshalb in der Wildnisbildung eine große Rolle. Dazu passt eine Bescheidenheits-Didaktik, die mit einfachen Hilfsmitteln auskommt: sie erhöht den Reiz des Naturerlebens und ruft nicht selten Verblüffung und Staunen hervor.
Wildnis aus der Hosentasche
Aktuelles NABU-Projekt zur Wildnisbildung
"Wildnis aus der Hosentasche" heißt das aktuelle Wildnisbildungs-Projekt des NABU Hessen, an dessen Entwicklung derzeit gearbeitet wird. Das Kartenspiel möchte mit einfachen Hilfsmitteln dazu anregen, Wildnis und Verwilderung in kleinen und großen Schutzgebieten zu erkunden, zu erleben und zu reflektieren. Mit verschiedenen Kartenkombinationen der vier Kartentypen Natur, Thema, Werkzeug und Andenken kann man viele Entdecker-Szenarien gestalten, die bildungswirksam werden können. Das Kartenspiel lässt sich in verschiedenen Schwierigkeitsgraden ausspielen und eignet sich deshalb sowohl für Jugendliche als auch für Erwachsene. Es wurde bei Fortbildungen getestet und optimiert und soll im Laufe des Jahres 2025 erscheinen.
Waldscout - Wildnisexpedition
Wildnisbildung im Nationalpark Kellerwald-Edersee
Die Wildnisbildung spielt beim NABU Hessen eine große Rolle. In Kooperation mit dem Nationalpark Kellerwald-Edersee und dem Jugendverband NAJU wurde von 2009 bis 2018 das Bildungsprojekt "Waldscout – Wildnisexpedition" entwickelt und durchgeführt. Im Mittelpunkt standen die BNE-Themen eigener Lebensstil und Schutz der biologischen Vielfalt. Beim Waldscout-Projekt gingen Schulklassen und Jugendgruppen auf eine 24-stündige Expedition in die Wildnis des Nationalparks. Sie packten ihren ökologischen Zivilisations-Rucksack an einer Jugendherberge in der Region, trekkten in den Nationalpark , lebten in einem einfachen Waldbiwak und gestalteten als Gäste der Wildnis ein nachhaltig ausgerichtetes Campleben. Bei selbst ausgewählten Erkundungs-Projekten lernten sie die Tier- und Pflanzenwelt der Wildnis kennen und reflektierten ihr eigenes Verhältnis zur Natur.
Die Leitung des Waldscout-Projektes lag in den Händen der Wildnisführer*innen Anja Erxleben und Sebastian Lehmeier. Das Projektbüro war auf der Jugendburg Hessenstein untergebracht. In den zehn Projektjahren begleitete das Bildungsteam über 1.500 Jugendliche in den verwildernden Wald des Nationalparks. Die didaktische und naturschutzfachliche Begleitforschung zeigte, dass die Teilnehmenden zum Nachdenken über das Verhältnis von Mensch und Natur angeregt wurden und dass die einfachen Biwakstellen die wilde Natur kaum beeinträchtigten. Das Bildungsprojekt wurde von 2009 bis 2013 von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU), der Stiftung Hessischer Naturschutz (SHN) und der Sparkassenstiftung Waldeck-Frankenberg gefördert. Als Nachfolgeprojekt veranstaltet der Nationalpark bis heute die Wildnisnacht.
Wildnisbildung zum Weiterlesen
Zur Wildnisbildung und zum Waldscout-Projekt gibt es einige Fachbeiträge in Büchern, Periodika und Zeitschriften. Hier eine Literaturauswahl zu Veröffentlichungen im Rahmen der Bildungsprojekte des NABU Hessen:
- Langenhorst, B. & Erxleben, A. (2023): Wildnisbildung in Hessen – Theorie, Praxis und Evaluation, in: Jahrbuch Naturschutz in Hessen, S. 40-45, Link: https://www.naturschutz-hessen.de/downloads/JNH_22/Wildnisbildung_in_Hessen_-_Theorie_Praxis_und_Evaluation.pdf
- Langenhorst, B. (2023): Von der Verwilderung zur Wildnisbildung – warum wir das Wilde brauchen, in: Wildnisforum Nationalpark Harz, S. 14-17
- Langenhorst, B. (2021): Wildnisbildung im Anthropozän – Verantwortung für das Wilde, in: Lindau, A.-K. et al.: Wilde Nachbarschaft, Wildnisbildung im Kontext einer Bildung für nachhaltige Entwicklung, S. 93-116, oekom-Verlag, München, Link: https://www.oekom.de/_files_media/titel/leseproben/9783962382728.pdf
- Langenhorst, B. (2016): Wildnisbildung und nachhaltige Entwicklung. Theorie, Praxis und Evaluation am Beispiel des Projektes „Waldscout – Wildnisexpedition, Verlag Dr. Kovac, Hamburg, Link: https://www.verlagdrkovac.de/978-3-8300-9283-4.htm
- Erxleben, A. (2016): Wildnisexpeditionen im Nationalpark – Eine Gradwanderung zwischen wilden Schülern und kultivierter Bildung, in: Tagungsband Hohe Tauern – Wie wild darf Pädagogik sein?, Nationalpark-Akademie Hohe Tauern, Matrei
- Erxleben, A. (2015): Heilige Hallen und schwere Jungs. "Waldscout – Wildnisexpedition" im Nationalpark Kellerwald-Edersee, in: erleben & lernen, Heft 1., S. 37-38
- Garthe, C. J. (2015): Erholung und Bildung in Nationalparken. Gesellschaftliche Einstellungen, ökologische Auswirkungen und Ansätze für ein integratives Besuchermanagement, Verlag Dr. Kovac, Hamburg, Link: https://www.verlagdrkovac.de/978-3-8300-8521-8.htm
- Langenhorst, B., Lude, A. & Bittner, A. (Hrsg.) (2014): Wildnisbildung. Neue Perspektiven für Großschutzgebiete, DBU-Umweltkommunikation Bd.4, oekom-Verlag, München, Link: https://www.oekom.de/buch/wildnisbildung-9783865814906